11

Nicht daß Hanna und ich nach dem ersten Tag der Osterferien nicht mehr glücklich

gewesen wären. Wir waren nie glücklicher als in jenen Aprilwochen. So verstellt dieser

erste Streit und überhaupt unser Streiten war – alles, was unser Ritual des Vorlesens, 22 / 89

Duschens, Liebens und Beieinanderliegens öffnete, tat uns gut. Außerdem hatte sie sich

mit ihrem Vorwurf, ich hätte sie nicht kennen wollen, festgelegt. Wenn ich mich mit ihr

zeigen wollte, konnte sie keine prinzipiellen Einwände erheben. »Also wolltest du doch

nicht mit mir gesehen werden« – das mochte sie sich nicht sagen lassen müssen. So fuhren

wir in der Woche nach Ostern mit dem Fahrrad weg, vier Tage Wimpfen, Amorbach und

Miltenberg.

Ich weiß nicht mehr, was ich meinen Eltern gesagt habe. Daß ich die Fahrt mit meinem

Freund Matthias mache? Mit einer Gruppe? Daß ich einen ehemaligen Klassenkameraden

besuche? Vermutlich war meine Mutter besorgt, wie immer, und fand mein Vater, wie

immer, sie solle sich keine Sorgen machen. Hatte ich nicht gerade die Klasse geschafft,

was mir niemand zugetraut hatte?

Während ich krank war, hatte ich mein Taschengeld nicht ausgegeben. Aber das würde

nicht reichen, wenn ich auch für Hanna zahlen wollte. Also bot ich meine

Briefmarkensammlung im Briefmarkengeschäft bei der Heiliggeistkirche zum Verkauf. Es

war das einzige Geschäft, das an der Tür den Ankauf von Sammlungen anzeigte. Der

Verkäufer sah meine Alben durch und bot mir sechzig Mark. Ich wies ihn auf mein

Prunkstück hin, eine geradegeschnittene ägyptische Marke mit einer Pyramide, die im

Katalog mit vierhundert Mark verzeichnet war. Er zuckte mit den Schultern. Wenn ich so

an meiner Sammlung hinge, sollte ich sie vielleicht besser behalten. Dürfte ich sie

überhaupt verkaufen? Was sagten meine Eltern dazu? Ich versuchte zu handeln. Wenn die

Marke mit der Pyramide doch nicht wertvoll sei, würde ich sie einfach behalten. Dann

könne er mir nur noch dreißig Mark geben. Also sei die Marke mit der Pyramide doch

wertvoll? Am Ende bekam ich siebzig Mark. Ich fühlte mich betrogen, aber es war mir

gleichgültig.

Nicht nur ich hatte Reisefieber. Zu meinem Erstaunen war auch Hanna schon Tage vor

der Reise unruhig. Sie überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte, und packte die

Satteltaschen und den Rucksack, die ich für sie besorgt hatte, um und um. Als ich ihr auf

der Karte die Route zeigen wollte, die ich mir überlegt hatte, wollte sie nichts hören und

nichts sehen. »Ich bin jetzt zu aufgeregt. Du machst das schon richtig, Jungchen.«

Wir brachen am Ostermontag auf. Die Sonne schien, und sie schien vier Tage lang.

Morgens war es frisch, und tags wurde es warm, nicht zu warm fürs Fahrradfahren, aber

warm genug zum Picknicken. Die Wälder waren Teppiche in Grün, mit gelbgrünen,

hellgrünen, flaschengrünen, blau- und schwarzgrünen Tupfern, Flecken und Flächen. In

der Rheinebene blühten schon die ersten Obstbäume. Im Odenwald gingen gerade die

Forsythien auf.

Oft konnten wir nebeneinander fahren. Dann zeigten wir uns, was wir sahen: die Burg,

den Angler, das Schiff auf dem Fluß, das Zelt, die Familie im Gänsemarsch am Ufer, den

amerikanischen Straßenkreuzer mit offenem Verdeck. Wenn wir eine andere Richtung und 23 / 89

Straße nahmen, mußte ich vorausfahren; sie wollte sich um Richtungen und Straßen nicht

kümmern. Sonst fuhr, wenn der Verkehr zu dicht war, mal sie hinter mir, mal ich hinter ihr.

Sie hatte ein Fahrrad mit verdeckten Speichen und verdecktem Tretwerk und Zahnrad und

trug ein blaues Kleid, dessen weiter Rock im Fahrtwind flatterte. Ich brauchte eine Weile,

bis ich nicht mehr fürchtete, der Rock werde in die Speichen oder ins Zahnrad geraten und

sie werde stürzen. Danach sah ich sie gerne vor mir herfahren.

Wie hatte ich mich auf die Nächte gefreut. Ich hatte mir vorgestellt, daß wir uns lieben,

einschlafen, aufwachen, uns wieder lieben, wieder einschlafen, wieder aufwachen und so

fort, Nacht für Nacht. Aber nur in der ersten Nacht bin ich noch mal aufgewacht. Sie lag

mit dem Rücken zu mir, ich beugte mich über sie und küßte sie, und sie drehte sich auf

den Rücken, nahm mich in sich auf und hielt mich in ihren Armen. »Mein Jungchen, mein

Jungchen.« Dann schlief ich auf ihr ein. Die anderen Nächte schliefen wir durch, müde

vom Fahren, von Sonne und Wind. Wir liebten uns am Morgen.

54 Hanna überließ mir nicht nur die Wahl der Richtungen und Straßen. Ich suchte die

Gasthöfe aus, in denen wir über Nacht blieben, trug uns als Mutter und Sohn in die

Meldezettel ein, die sie nur noch unterschrieb, und wählte auf der Speisekarte nicht nur für

mich, sondern auch für sie das Essen aus. »Ich mag’s, mich mal um nichts zu kümmern.«

Den einzigen Streit hatten wir in Amorbach. Ich war früh aufgewacht, hatte mich leise

angezogen und aus dem Zimmer gestohlen. Ich wollte das Frühstück hochbringen und

wollte auch schauen, ob ich schon ein offenes Blumengeschäft finde und eine Rose für

Hanna kriege. Ich hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. »Guten Morgen! Hole

Frühstück, bin gleich wieder zurück« – oder so ähnlich. Als ich wiederkam, stand sie im

Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im Gesicht.

»Wie kannst du einfach so gehen!«

Ich setzte das Tablett mit Frühstück und Rose ab und wollte sie in die Arme nehmen.

»Hanna…«

»Faß mich nicht an.« Sie hatte den schmalen ledernen Gürtel in der Hand, den sie um

ihr Kleid tat, machte einen Schritt zurück und zog ihn mir durchs Gesicht. Meine Lippe

platzte, und ich schmeckte Blut. Es tat nicht weh. Ich war furchtbar erschrocken. Sie holte

noch mal aus.

Aber sie schlug nicht noch mal. Sie ließ den Arm sinken und den Gürtel fallen und

weinte. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Ihr Gesicht verlor alle Form. Aufgerissene

Augen, aufgerissener Mund, die Lider nach den ersten Tränen verquollen, rote Flecken auf

Wange und Hals. Aus ihrem Mund kamen krächzende, kehlige Laute, ähnlichdem tonlosen

Schrei, wenn wir uns liebten. Sie stand da und sah mich durch ihre Tränen an.

Ich hätte sie in meine Arme nehmen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich wußte nicht, was

tun. Bei uns zu Hause weinte man nicht so. Man schlug nicht, nicht mit der Hand und erst

recht nicht mit einem Lederriemen. Man redete. Aber was sollte ich sagen?24 / 89

Sie machte zwei Schritte zu mir, warf sich an meine Brust, schlug mit den Fäusten auf

mich ein, klammerte sich an mich. Jetzt konnte ich sie halten. Ihre Schultern zuckten, sie

schlug mit der Stirn an meine Brust. Dann seufzte sie tief und kuschelte sich in meine

Arme.

»Frühstücken wir?« Sie löste sich von mir. »Mein Gott, Jungchen, wie siehst du aus!«

Sie holte ein nasses Handtuch und säuberte meinen Mund und mein Kinn. »Und das Hemd

ist voller Blut.« Sie zog mir das Hemd aus, dann die Hose und dann zog sie sich aus, und

wir liebten uns.

»Was war eigentlich los? Warum warst du so wütend?« Wir lagen beieinander, so

befriedigt und zufrieden, daß ich dachte, jetzt werde sich alles klären.

»Was war los, was war los – wie dumm du immer fragst. Du kannst nicht einfach so

gehen.«

»Aber ich habe dir doch einen Zettel…«

»Zettel?«

Ich setzte mich. Da, wo ich den Zettel auf den Nachttisch gelegt hatte, lag er nicht mehr.

Ich stand auf, suchte neben und unter dem Nachttisch, unter dem Bett, im Bett. Ich fand

ihn nicht. »Ich versteh das nicht. Ich hatte dir einen Zettel geschrieben, daß

ich Frühstück

hole und gleich zurück bin.«

»Hast du? Ich seh keinen Zettel.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Ich will dir gerne glauben. Aber ich seh keinen Zettel.«

Wir stritten nicht mehr. War ein Windstoß gekommen, hatte den Zettel genommen und

irgend- und nirgendwo hingetragen? War alles ein Mißverständnis gewesen, ihre Wut,

meine geplatzte Lippe, ihr wundes Gesicht, meine Hilflosigkeit?

Hätte ich weitersuchen sollen, nach dem Zettel, nach der Ursache von Hannas Wut,

nach der Ursache meiner Hilflosigkeit? »Lies noch was vor, Jungchen!« Sie schmiegte

sich an mich, und ich nahm Eichendorffs »Taugenichts« und fuhr fort, wo ich beim

letztenmal geendet hatte. Der »Taugenichts« las sich leicht vor, leichter als »Emilia

Galotti« und »Kabale und Liebe«. Hanna folgte wieder mit gespannter Anteilnahme. Sie

mochte die eingestreuten Gedichte. Sie mochte die Verkleidungen, Verwechslungen,

Verwicklungen und Nachstellungen, in die sich der Held in Italien verstrickt. Zugleich

nahm sie ihm übel, daß er ein Taugenichts ist, nichts leistet, nichts kann und auch nichts

können will. Sie war hin und her gerissen und konnte noch Stunden, nachdem ich mit dem

Vorlesen aufgehört hatte, mit Fragen kommen. »Zolleinnehmer – war das kein guter

Beruf?«

Wieder ist der Bericht über unseren Streit so ausführlich geraten, daß ich auch von

unserem Glück berichten will. Der Streit hat unser Verhältnis zueinander inniger gemacht.

Ich hatte sie weinen sehen, Hanna, die auch weinte, war mir näher als Hanna, die nur stark 25 / 89

war. Sie begann, eine sanfte Seite zu zeigen, die ich noch nicht gekannt hatte. Sie hat

meine geplatzte Lippe, bis sie heilte, immer wieder betrachtet und zart berührt.

Wir liebten uns anders. Lange hatte ich mich ganz ihrer Führung, ihrem Besitzergreifen

überlassen. Dann hatte auch ich von ihr Besitz zu nehmen gelernt. Auf und seit unserer

Fahrt haben wir nicht mehr nur Besitz voneinander ergriffen.

Ich habe ein Gedicht, das ich damals geschrieben habe. Als Gedicht ist es nichts wert.

Ich habe damals für Rilke und für Benn geschwärmt, und ich erkenne, daß ich beiden

zugleich nacheifern wollte. Aber ich erkenne auch wieder, wie nah wir einander damals

waren. Hier ist das Gedicht:

Wenn wir uns öffnen

du dich mir und ich dir mich,

wenn wir versinken

in mich du und ich in dich,

wenn wir vergehen

du mir in und dir in ich.

Dann bin ich ich

und bist du du.

©著作权归作者所有,转载或内容合作请联系作者
  • 序言:七十年代末,一起剥皮案震惊了整个滨河市,随后出现的几起案子,更是在滨河造成了极大的恐慌,老刑警刘岩,带你破解...
    沈念sama阅读 194,390评论 5 459
  • 序言:滨河连续发生了三起死亡事件,死亡现场离奇诡异,居然都是意外死亡,警方通过查阅死者的电脑和手机,发现死者居然都...
    沈念sama阅读 81,821评论 2 371
  • 文/潘晓璐 我一进店门,熙熙楼的掌柜王于贵愁眉苦脸地迎上来,“玉大人,你说我怎么就摊上这事。” “怎么了?”我有些...
    开封第一讲书人阅读 141,632评论 0 319
  • 文/不坏的土叔 我叫张陵,是天一观的道长。 经常有香客问我,道长,这世上最难降的妖魔是什么? 我笑而不...
    开封第一讲书人阅读 52,170评论 1 263
  • 正文 为了忘掉前任,我火速办了婚礼,结果婚礼上,老公的妹妹穿的比我还像新娘。我一直安慰自己,他们只是感情好,可当我...
    茶点故事阅读 61,033评论 4 355
  • 文/花漫 我一把揭开白布。 她就那样静静地躺着,像睡着了一般。 火红的嫁衣衬着肌肤如雪。 梳的纹丝不乱的头发上,一...
    开封第一讲书人阅读 46,098评论 1 272
  • 那天,我揣着相机与录音,去河边找鬼。 笑死,一个胖子当着我的面吹牛,可吹牛的内容都是我干的。 我是一名探鬼主播,决...
    沈念sama阅读 36,511评论 3 381
  • 文/苍兰香墨 我猛地睁开眼,长吁一口气:“原来是场噩梦啊……” “哼!你这毒妇竟也来了?” 一声冷哼从身侧响起,我...
    开封第一讲书人阅读 35,204评论 0 253
  • 序言:老挝万荣一对情侣失踪,失踪者是张志新(化名)和其女友刘颖,没想到半个月后,有当地人在树林里发现了一具尸体,经...
    沈念sama阅读 39,479评论 1 290
  • 正文 独居荒郊野岭守林人离奇死亡,尸身上长有42处带血的脓包…… 初始之章·张勋 以下内容为张勋视角 年9月15日...
    茶点故事阅读 34,572评论 2 309
  • 正文 我和宋清朗相恋三年,在试婚纱的时候发现自己被绿了。 大学时的朋友给我发了我未婚夫和他白月光在一起吃饭的照片。...
    茶点故事阅读 36,341评论 1 326
  • 序言:一个原本活蹦乱跳的男人离奇死亡,死状恐怖,灵堂内的尸体忽然破棺而出,到底是诈尸还是另有隐情,我是刑警宁泽,带...
    沈念sama阅读 32,213评论 3 312
  • 正文 年R本政府宣布,位于F岛的核电站,受9级特大地震影响,放射性物质发生泄漏。R本人自食恶果不足惜,却给世界环境...
    茶点故事阅读 37,576评论 3 298
  • 文/蒙蒙 一、第九天 我趴在偏房一处隐蔽的房顶上张望。 院中可真热闹,春花似锦、人声如沸。这庄子的主人今日做“春日...
    开封第一讲书人阅读 28,893评论 0 17
  • 文/苍兰香墨 我抬头看了看天上的太阳。三九已至,却和暖如春,着一层夹袄步出监牢的瞬间,已是汗流浃背。 一阵脚步声响...
    开封第一讲书人阅读 30,171评论 1 250
  • 我被黑心中介骗来泰国打工, 没想到刚下飞机就差点儿被人妖公主榨干…… 1. 我叫王不留,地道东北人。 一个月前我还...
    沈念sama阅读 41,486评论 2 341
  • 正文 我出身青楼,却偏偏与公主长得像,于是被迫代替她去往敌国和亲。 传闻我的和亲对象是个残疾皇子,可洞房花烛夜当晚...
    茶点故事阅读 40,676评论 2 335

推荐阅读更多精彩内容