Kapitel 1: Die Insel
Die Insel, auf der Flügelchen lebte, hieß Klein Eiland Immergrün. Sie war im Vergleich zu anderen Inseln oder gar Ländern außerordentlich klein. Nur Wellenschläge trennten das Eiland von den schroffen Klippen des mit majestätisch gelben Bergen verzierten Festlands, das wir Gelbes Land nannten. Bis vor einigen Jahren waren die Bewohner Klein Eiland Immergrüns noch die einzigen Menschen weit und breit. In letzter Zeit fanden jedoch einige Wenige Pfade über die rauen Gipfel und errichteten an der Küste kleine Siedlungen. Das waren zwar Neuigkeiten, wie es sie auf unserer Insel noch nie zuvor gegeben hatte, sie änderten aber erst einmal nichts an unserem idyllischen Leben auf Klein Eiland Immergrün.
Unser Eiland machte seinem Namen alle Ehre. Es war klein, fast schon winzig. Es hatte keine zwei Gipfel, keinen Höheren und keinen Niedrigeren, sondern nur einen Einzigen. Man konnte inmitten eines fünf-minütigen Gesprächs einmal komplett um die einige Meter hohe hügelartige Steinformation, die wir Berg nannten, drum herum gehen. Um den Berg herum schlängelten sich schmale Wege über kurze hölzerne Brücken durch die zerklüftete Klippenlandschaft der Insel. Das ganze Jahr über war die Insel mit immergrünen Pflanzen fast vollständig bedeckt. Besonders im unteren Teil der Insel wuchs viel Bambus, der links und rechts der Pfade seine Wurzeln geschlagen hatte. Auf dem steinernen Hügel hatte sich ein Wald mit verschiedenen Nadelbaumarten festgesetzt, der selbst nach den trockensten und kältesten Wintern noch grünte.
Ganz oben auf der Spitze des Berges thronten zwei äußerst prachtvolle Türme. Einer von ihnen war die gelbe Palastpagode, in dem die Kaiserin Kirschblüte und ihre Chargen saßen. Der Turm stich durch seine einzigartig traditionelle Bauweise hervor. Zwanzig Stock hoch war er. Äußerlich fielen sofort seine in gelblich verziertem Holz, geschwungen, überragenden Dachsparren auf, die aussahen als wären sie jeweils eine von vielen kaiserlichen Terrassen. Innerlich wurde er getragen durch massive Stützbalken aus Rotholz, deren Farbe zwischen den Dachsparren nach außen blitzte. Wenn die Sonne auf den Gelben Turm schien, strahlte er prächtig in denen vom Naturholz ihm gegeben Farben.
Der andere Turm auf dem Eiland war der weiße Leuchtturm. Bei Tag strahlte er durch seine helle weiße Farbe meilenweit bis vor die Küste des Gelben Landes. Bei Nacht erfasste sein pulsierendes Licht sogar die entlegensten Dschunken, die ihre Kreise weit draußen am Horizont des Gelben Meeres zogen. Ja, das Gelbe Land, die Gelbe Küste, das Gelbe Meer und die Gelben Berge, diese Namen waren bereits Teil von zahlreichen Kindermärchen, die Flügelchen damals erzählt worden waren. Warum lediglich seine Insel die Farbe Grün im Namen trug, erschloss sich Flügelchen nie. Jeden Tag bei Sonnenaufgang vermischte sich die feuerroten Sonnenstrahlen mit dem dunklen Grün der Nadelwälder und hüllten das Land in einen gelblichen Dunst. Dieser Dunst stieg weit hoch bis zu den steinernen Gipfeln der Gebirgskette auf, wo er sich an die ebenfalls gelbliche Farbe der Gesteinsformationen anschloss. Von Seefahrern, die auf dem Eiland ab und zu Rast machten, wusste Flügelchen, dass selbst die Bewohner des Landes hinter den Gelben Bergen ihr Land das Gelbe Land nannten. Die Menschen Klein Eiland Immergrüns hingegen hatten das Land noch nie betreten, ihre Insel noch nie verlassen. Warum sollten sie auch? Auf der Südseite der Insel lag ein kleines Plateau, auf dem sie frisches Obst und Gemüse anbauten. Auch waren die Bewohner Klein Eiland Immergrüns ausgezeichnete Fischer. Sie lebten von allem, was das Meer ihnen zur Verfügung stellte. Bei Ebbe kletterte Flügelchen meist weit raus über die scharfkantigen Klippen, um zahlreiches Meeresgetier von den Felsen zu kratzen. Flügelchen machte das schon sein Leben lang. Mittlerweile war er bereits ein geübter Kletterer, das Terrain um die Insel war schließlich seine Heimat, sein gesamtes Leben verbrachte er dort. So huschte er regelrecht über die sonst tödlichen Felsspitzen, die bei Flut flach unter der Wasseroberfläche schlummerten.
Die Bewohner Klein Eiland Immergrüns konnte man an zwei Händen abzählen. Neben Flügelchen gab es keine weiteren Kinder auf der Insel. Nur eine Mutter blieb ihm. Sein Vater segelte schon vor langer Zeit in die große weite Welt hinaus und kam nie von seinen Abenteuern zurück. Was genau mit ihm passierte wusste anscheinend niemand auf Klein Eiland Immergrün. Damals wie heute brach es Flügelchen das Herz. Flügelchens Mutter hieß Frau Schnee und war einfach nur herzenslieb. Sie pflegte die Gärten und strahlte jedes Mal vom ganzen Herzen, wenn man sie sah. Es war jedoch kein aufgesetztes Strahlen. Für sie war das Leben ein Paradies, sie genoss jeden Moment. Mit ihrer Einstellung hatte sie nicht ganz unrecht, unsere Insel war wahrhaftig das Paradies auf Erden, hier konnte man es sich gut gehen lassen. Flügelchen und Frau Schnee waren einfache Bürger Klein Eiland Immergrüns. Sie waren daher für die alltäglichen Arbeiten zuständig.
Ein ganz besonderer Bürger war der selbsternannte Minister für Verteidigung des Äußeren, General Sonne. General Sonne nahm seinen Job todernst. Obwohl schon seit Jahren keine feindliche Dschunke mehr an der Gelben Küste aufgetaucht ist, patrouillierte der General tagtäglich entlang der schmalen Wege um das Eiland. Bei jedem noch so überdurchschnittlich lautem Zwitschern der Vögel fuhr der General in die Höhe, um die Ursache für das aus seiner Sicht feindselige Offensivmanöver zu erspähen. Dabei benutzte er stets sein eigentlich viel zu langes schwarzes Fernrohr, welches voll ausgefahren fast zwei Meter maß. Es war so lang, dass der General es auf mehrere Stelzen aufstellen musste, um die volle Blickreichweite auszureizen. Vom Augenblick des Ertönens der Alarmsirene bis zu dem Zeitpunkt als das Fernrohr voll funktionstüchtig auf seinen Stelzen stand, verging eine halbe Ewigkeit. Für die Kinder von Klein Eiland Immergrün war es jedes Mal ein Spaß dem General bei seiner Anstrengung zu zusehen. Meist war er jedoch nicht zu sehen, da er den Großteil seiner Zeit damit verbrachte oben im Leuchtturm den Horizont zu beobachten.
Im Gegensatz zum General Sonne nahm Fuhrmann Ebbe seinen Job überhaupt nicht ernst. Ja man könnte fast schon sagen, wenn man ihn so auf seinem hölzernen kleinen Kahn an dem einzigen Pier Klein Eiland Immergrüns liegen sah, er würde seine Arbeit vollständig vernachlässigen. Ähnlich wie General Sonne hatte Fuhrmann Ebbe auch tagsüber nicht reichlich viel zu tun. Die Gelbe Küste war noch unbesiedelt, lediglich ein Pfad begann am gegenüberliegenden Pier der Küste und führte tief in den Dunst hinein, der sich über die Gelben Berge legte. Lange hatte Fuhrmann Ebbe schon keine Bewohner Klein Eiland Immergrüns an die Küste des Gelben Landes gebracht. Diese Insel gab ihnen diese gewisse Sicherheit, Sicherheit vor der Monstrosität des ihnen gegenüberliegenden Landes. Atemberaubend, aber auch angsteinflößend, war der tagtägliche Blick auf die gewaltige Landschaft für die Bewohner Klein Eiland Immergrüns. Da unsere Insel so nah an der Küste lag, dauerte eine Überfahrt bis auf die andere Seit nur ein paar Minuten. Jedes Mal, wenn Fuhrmann Ebbe seinen alten Kahn vom Pier band, um in See zu stechen dröselte er das gesamte Ereignis wie eine kaiserliche Zeremonie auf und schwang hochoffizielle Reden. Niemand wagte es den Fuhrmann Ebbe bei seinen Laudationes zu unterbrechen. Diese waren jedoch auch nach der kurzen Überfahrt noch lange nicht zu Ende erzählt. Das führte zu der höchst bizarren Situation, dass alle noch der circa halbstündigen Rede des Fuhrmanns horchten, bevor sie den Kahn verließen. Der Fuhrmann selbst bemerkte es währenddessen nicht, dass die eigentliche Fahrt schon längst beendet war. Auch mit dem Fuhrmann Ebbe trieben die Kinder Klein Eiland Immergrüns ihre Scherze. Tagsüber, während er in seinem Kahn schlief, seinen spitzen Strohhut weit über sein Gesicht gezogen, bewarfen ihn die Kinder mit allem was die Insel so Entbehrliches hergab. Der Fährmann ließ sich davon jedoch nicht stören, friedlich schlief er bis jemand seine Dienste in Anspruch nahm.
Um die übrigen drei Bewohnerinnen Klein Eiland Immergrüns vorzustellen, müssen wir uns über die majestätisch verzierten Treppenaufgänge der Gelben Pagode hoch in das kaiserliche Gemach begeben. Gelbe Wandteppiche mit schlangenartigen Flugwesen hingen neben dem kaiserlichen Thron aus geschwungenem dunkelrotem Edelholz. Das Herzstück des Turms war akribisch symmetrisch eingerichtet. Während man vom Treppenaufgang direkt dem Thron gegenüberstand, schaute man links und rechts auf stolze Teetischchen, die mit exotischem Obst, liebliche Teekannen aus Porzellan und stets glühenden Räucherkerzen versehen waren. Überall wo man hinschaute sah man Jade, teilweise in das warme Holz eingearbeitet, teilweise in Form von Schmuckstücken auf Holzstehlen präsentiert. Überall hingen rot-goldenen Lampions mit Schriftzeichen aus der alten Sprache Klein Eiland Immergrüns darauf von der Decke. Obwohl Kaiserin Kirschblüte ihren prachtvollen Kaiserthron für sie bauen ließ, nahm sie nur selten darauf Platz. Meist saß sie auf einem kleinen, lediglich kniehohen Schemel an einem der Teetischchen und blickte über das Holzverdach auf ihr Kaiserreich. Kaiserin Kirschblüte herrschte nicht nur über ganz Klein Eiland Immergrün. Das gesamte Küstenland bis zu den Gelben Bergen nannte sie ihr Eigen. Wenn man sie fragte, was gewöhnlich niemand zu wagen versuchte, gehörte das Gelbe Land hinter den Gelben Bergen ebenfalls zum Herrschaftsgebiet Klein Eiland Immergrüns. Auch wenn niemand von ihren Untertanen selbstverständlich dort je zuvor gewesen war. Die Fremden die in steigenden Zahlen an der Gelben Küste auftauchten, verdunkelte den sonst so stolzen und behütenden Blick der Kaiserin über ihr Reich. Sie saß dort. Streng aufrecht, in ihrem langem gelb-goldenen, eng am Körper anliegendem traditionellen Frauenkleid, an dem sich ein dunkel-goldener Drache von ihren Füßen bis hoch zu ihren Schultern an ihr hoch schlängelte. Bis auf unserer Kaiserin durfte niemand sonst die Farbe des Himmels tragen. Uns Untertanen war es nicht erlaubt. Wunderschön war sie. Obwohl sie bereits ein sehr hohes Alter erreicht haben musste, alterte sie nicht. Die pechschwarzen Haare grenzten sich klar von der noch jungen, schneeweißen Haut ihres jugendlichen Gesichts ab. Die Haarpracht der Kaiserin wurde meistens von ihren Dienerinnen tagtäglich aufwendig hergerichtet. Stundenlang arbeiteten sie an dem Flechtkunstwerk, welches mit Jaderingen und traditionellen Haarnadeln aus purem Silber verziert, hinter am Hinterkopf der Kaiserin geflochten wurde. Beziehungsweise, war das früher noch so. Heute trug sie tagtäglich eine selbst, mit zwei schnellen Handgriffen, geflochtene Frisur, die lediglich mit zwei hölzernen Haarnadeln befestigt wurde. Kaiserin Kirschblüte war die schönste Frau im ganzen Lande. Sie war äußerst zierlich, elegant, jung und trieb jedem auf der Insel, ob Mann oder Frau, ein Staunen ins Gesicht.
Sophie und Yasmine hießen die Dienerinnen der Kaiserin Kirschblüte. Sie waren zwei identisch aussehende Zwillinge. Ihre Hauptaufgabe war es sich ausgiebig um der Kaiserin Wohlbefinden zu kümmern. Sie bildeten zusätzlich den verlängerten Arm ihrer Kaiserin, vollzogen Entscheidungen, trieben Steuern ein, billigten und tadelten. Sie waren ihr Sprachrohr und ihre Informanten. Während die Kaiserin nie selbst ihre kaiserliche Pagode hinabstieg, um sich mit dem einfachen Volk auseinanderzusetzen, zeigten sich uns ihre beiden Chargen Sophie und Yasmine recht häufig, manchmal sogar jeden Tag. Meist waren sie sehr ungern gesehene Gäste, die auf Klein Eiland Immergrün für Recht und Ordnung sorgten. Sie waren ebenfalls zwei bezaubernde Damen, schlank mit zierlichen, schmalen Gesichtern. Im Gegensatz zur Tracht der Kaiserin waren ihre traditionellen Frauenkleider, die eng anliegend am Körper vom Halsansatz bis hinunter zu den Knöcheln reichten, in roter Farbe seiden geschneidert. Emotionen kamen bei den beiden Damen nur selten zum Vorschein. Während wir mit den anderen Bewohnern Klein Eiland Immergrüns unsere Späße trieben, wurden wir regelrecht eingeschüchtert von der autoritären Ausstrahlung der beiden Zwillinge. Man sagte sich, dass sie im Kriegsfall ihre Silberstahlhaarnadeln als Waffe verwendeten und sie wie Kurzschwerter schwangen. Niemand konnte genau sagen, wann, wie und warum die Kaiserin mit ihren beiden Dienerinnen auf unser bescheidenes Eiland kamen. Ebenso wie ihre Herrscherin alterten auch Sophie und Yasmine nicht. Bis auf Legenden, die man sich hier über ihre Herkunft auf der Insel erzählte, wusste keiner der Bewohner Klein Eiland Immergrüns auch nur im Entferntesten von dem wahren Grund ihrer Existenz.
Neben den menschlichen gab es noch die vielen tierischen Bewohner Klein Eiland Immergrüns, die sich auf und rund um die Insel niedergelassen hatten. Sie bevölkerten nicht nur unser Eiland, sondern auch die Weiten des Gelben Landes bis hinter die im gelben Dunst verschwindenden Gipfel des Gebirges, welches für die Menschen Klein Eiland Immergrüns die Grenze der für sie bekannten Welt darstellte. Für manche mögen die Tierwesen, die sich hier an der Gelben Küste tummelten wohlmöglich eigenartig, ja gar surreal aussehen. Sie waren ein Teil des Zaubers, der sich jeden Tag bei Sonnenaufgang in Form des gelben Dunstes über das Land legte. Grundsätzlich gab es auch ganz gewöhnliche Tiere, wie es sie überall auf der Welt gab. Die See abseits der scharfen Klippen des Eilands war überfüllt mit Fischen und gemeinen Meeresgetier, welche den Bewohnern Klein Eiland Immergrüns das Überleben sicherte. Auch die Lüfte wurden von keinen anderen Kreaturen bevölkert als von jenen, welche man nicht aus anderen Landen kennen würde. Schwalben, Grünspechte und ganz besonders die für eine Insel typischen Seevögel gehörten mitunter zur Artenvielfalt der Gelben Küste.
Die Fauna Klein Eiland Immergrüns hatte einige wenige tierische Besucher zu verzeichnen, die durch ihr mystisches Erscheinungsbild den Himmel über ihnen zum Leuchten brachten. Auf den Gipfeln der Gelben Berge thronte Ka’a, eine rotschuppige, scheinbar unendlich lange, fliegende Schlange. Ka’a war ein Drache der Welt Klein Eiland Immergrüns. Kurze, fast schon mickrige Flügel zierten die rotschimmernden Schuppen hinter seinem Kopf. Wie solche Flügel den gewaltigen Körper des Drachen tragen konnten schien unerklärlich. Ka’a schwebte Tag ein Tag aus in einem immer wiederkehrenden Rhythmus wie im Slalom zwischen den hohen Gipfeln des Gelben Gebirges umher. Es war ein fabelhaft majestätisches Bild, wie man es von den gemalten Terrassen der Pagode aus beobachten konnte.
An den Ufern des seichten Brackwassers bei Ebbe konnten besonders glückliche Seelen eine weitere, uns bekannte, äußerst mysteriöse Kreatur zu Gesicht bekommen. Dort stand sie, stolz und friedvoll in der Brandung zwischen den steinernen Klippen. Nur wenn der Ozean glatt war wie die Schuppen der Langaalkarpfen, die jedes Frühjahr in den Bächen des Eilands ihren Laich ablegten, erschien das Qilin. In den Nächten solcher Tage war der Lichtkegel des Leuchtturms auf dem absolut stillen Ozean wie das Rampenlicht einer Bühne, auf dessen Parkett das Qilin auf seinen Hirschhufen seinen schuppenbedeckten Körper elegant über das Wasser schwang und somit der friedvollen Natur seinen Tanz vorführte. Das mysteriöse Wesen hatte die Körperform eines Hirsches. Seine kräftigen aber zu gleich auch schlanken Beine geleiteten es geräuschlos und flink über die steilen und unwegsamen Kliffe der Gelben Küste. Dieses anmutig aussehende Wesen kam den Bewohnern des Eilands allerding nie besonders nah. General Sonne und Fuhrmann Ebbe schwuren stets schon häufig Zeuge dieser wahrhaftig fabelhaften Vorführungen gewesen zu sein. Die restlichen Bewohner waren sich jedoch einig, dass beide, der eine auf seinem Kahn und der andere in seinem Turm, zu viel Zeit mit Tagträumen verbrachten. Das Qilin begegnete einen nur dann, wenn es das Schicksal so wollte. Eine solche Erscheinung entschied schon häufig Kriege, krönte Könige und erschuf Helden. Dies waren wahrhaftig keine Umstände, die auf General Sonne und Fuhrmann Ebbe zutrafen.
Kapitel 2: Ausflug zum Strand
Es war ein wunderbarer Sommertag. Flügelchen packte all sein Zeug in seinen Jutebeutel, den er auf der Insel immer bei sich trug. „Guck ja, dass du mir in der Mittagssonne ein schattiges Plätzchen suchst. Das Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen, das macht es noch gefährlicher!“ gab Frau Schnee ihrem Sohn auf den Weg nach draußen mit. „Ja Mama, ich pass auf mich auf, du musst dir keine Sorgen machen.“ rief Flügelchen ihr über die Türschwelle schreitend zu. Lange schaute sie ihrem Jungen noch nach, wie er auf den schmalen geschlängelten Pfaden der Insel hinter den Bambussträuchern verschwand. Lange dauerte es nicht, bis sich das Grün öffnete und sich vor Flügelchen die bronzenen Felsen des Gelben Meeres offenbarten. Eine einzige vereinsamte Bucht konnte man auf der Insel finden. Geschützt von den schroffen Klippen wusch hier das Gelbe Meer seinen goldschimmernden Feinsand an. Ein wahres Paradies in dem Flügelchen gerne dem regen Trubel der Insel entfloh, um sich voll und ganz seiner Fantasie hinzugeben. Außer ihm kam sonst niemand an diesen Ort. Wenn Flügelchen den Strand bei Abenddämmerung verließ, wusste er am nächsten Morgen exakt wo er was gelassen hatte. Er kannte die Gezeiten, und wie sie den Strand tagtäglich auf ein Neues veränderten ganz genau. Aus diesem Grund kroch in diesem Moment, als er durch das Grün auf den Sandstrand trat, ein Gefühl der Unruhe in ihm hoch. Er wusste etwas stimmte ganz und gar nicht. Er brauchte einen Augenblick bis er begriff was passiert war. Einem ungeschulten Auge würde es wahrscheinlich erst gar nicht auffallen. Ein schillernder goldener Schimmer inmitten des gelb funkelnden Strandes. Beim genaueren Hinsehen wölbte sich der fein glitzernde Sand an genau dieser Stelle leicht nach oben. Dort wurde offensichtlich etwas Ungewöhnliches angespült, kam es Flügelchen in den Kopf. Aufgeregt lief er hinüber zu der gut erkennbaren leichten Wölbung im Sandstrand. Vor lauter Hast überschlugen sich seine Füße und er fiel, ohne sich rechtzeitig mit den Händen abstützen zu können, in den weichen Sand vor ihm. Sein kurzer Schrei verstummte beim Eintauchen in den Sand augenblicklich. Ein rascher Schwindel überfuhr Flügelchen bevor er sich im Sand orientieren konnte. Zu seiner Rechten, genau auf Höhe seines nun halb eingetauchten Kopfes, befand sich nun die mysteriöse Wölbung. Langsam rieselte der Sand von der Spitze der Wölbung herunter, sodass für Flügelchen der Blick auf eine goldschimmernde Oberfläche frei wurde. Flügelchen musste träumen. Wie vom Blitz getroffen raffte er sich auf, schüttelte den kurzen Schwindelanfall ab und streifte den Sand von seiner Kleidung. Sich hinunter bückend griff er mit beiden Händen tief in den von der Sonne aufgeheizten Sand. Vorsichtig befreite er den Gegenstand aus seinem sandigen Versteck und begutachtete ihn von allen Seiten. Ein Ei! Strahlend Gold glänzte es von oben bis unten. Überall auf seiner Oberfläche war der einem Straußenei gleichenden Gegenstand in rautenartige Abschnitte unterteilt. Ein durchaus anmutiges Schuppenkleid, welches dem augenscheinlich toten Etwas ein lebendiges Flair gab. Es maß etwa eine Elle in der Höhe und war so dick wie fünf reife zusammengebundene Bambusstämme. Flügelchen war nicht in der Lage seinen Blick auch nur einen kurzen Augenblick von dem wahrlich märchenhaft aussehenden Gegenstand zu lösen. Er strich sanft mit seinen Fingern über die Kuppe des wunderbaren Dinges. Ganz behutsam hielt er es in seinen mittlerweile vor Ehrfurcht zitternden Händen. Dann passierte es. Mit einem die Stille durchbrechenden Knacksen grub sich langsam ein dünner Riss durch die goldschimmernde Oberfläche des Eis. Flügelchen geriet kurz in Panik. Er wusste nicht was zu tun war. Hilflos wurde er Zeuge des wunderbar mysteriösen Naturschauspiels, welches sich vor ihm offenbarte. Ganz oben auf der Kuppel begann sich der Riss mit vielen anderen von ihm ausgehenden Rissen zu umgeben. Es schien als wollte das was in dem Ei hauste dort an dieser Stelle sein bis hierhin behagliches Zuhause verlassen, um Teil dieser, für es neuen, Welt zu werden. Das goldene Ei in Flügelchens Händen begann seine Farbe in ein glühendes Rot zu wechseln. Innerhalb weniger Augenblicke fingen die einzelnen Schuppen eine nach dem anderen an Feuer zu fangen. Bei all den fabelhaften Dingen die seine Welt zu bieten hatte, hatte Flügelchen ein solches Schauspiel noch nie zuvor gesehen. Kaltes Feuer. Seine Finger spürten die Hitze der Flammen nicht. Die soeben noch goldschimmernde Schale schrumpfte auf einen schwarz verkohlten Kranz zusammen, indem nun das gerade noch im Ei gewesene Wesen kauerte. Ein kleines echsenartiges, dreieckiges, weißes Köpfchen streckte sich Flügelchen entgegen. Die kurzen Flügel, mit orangener ledernder Haut überspannt, konnten wohl kaum den plumpen Körper des Wesens auch nur irgendwo hintragen. Große gepanzerte weiße Schuppen verteilten sich von oben bis unten über das Äußere der Kreatur. Seine scharfen Klauen deuteten die Ernsthaftigkeit, mit der man diesem Wesen in seinem ausgewachsenen Status begegnen sollte, an. Flügelchen wusste sofort, dass er es hier mit einem der mysteriösen Fabelwesen seiner Welt zu tun hatte. Er blickte hinweg über das Wesen in die endlose Weite des Ozeans. Dort am Horizont erblickte er die Silhouette eines Pferdes, welches dort ruhig in sicherer Entfernung die Bucht des kleinen Eilands beobachtete. Ein Qilin. Flügelchen wusste diese einem Traum gleichenden Eindrücke nicht zuzuordnen. Nur kurz blinzelte er und schon war die Silhouette am Horizont nur noch etwa halb so groß. Es schien zu fliehen. Vor Furcht? Vor Scheu? Es floh. Flügelchen kam es in den Sinn es zu rufen. Nach Hilfe? Nach Rat? Er kam nicht dazu. Er verstummte regelrecht. Dann dort vermeinte er eine Stimme zu hören. Ganz leise. Er konnte sie keiner Richtung zuordnen. Sie schien von überall her zu kommen. Was schien sie zu sagen? Er blickte auf das Wesen in seinen Armen. Seine Augen waren verschlossen. Dort lag es bewegungslos in den schwarz verkohlten Überresten seines Eis.