Wolfsburg
„Das erste, was Liang Jingchun sah, war der offene Hof, auf dem die Rohstoffe gelagert wurden. Ein Waggon war gerade dabei, eine Ladung von zehn Fuß langen Eisenpfannen zu transportieren, während ein anderer eine große Menge an schwarzem Erz abtransportierte. Der riesige Brückenkran, der vier Eisenwannen mit Erz anhob, rollte mit dröhnendem Getöse auf die Plattform eines riesigen Gebäudes. [...] Goldfarbene Flüssigkeit floss aus den Öfen. Ein Gasgeruch lag in der Luft. [...] Einmal, als ein abfahrender Waggon abfuhr und ein ankommender anhielt, ertönte aus dem Inneren der riesigen Stahlkonstruktion ein schwerfälliges Dröhnen, wie das unaufhörliche Tosen eines mächtigen Flusses. In Abständen war ein noch lauteres Geräusch zu hören, wie ein Orkan, der durch ein Tal fegt. Liang Jingchun konnte seine Gedanken nicht kontrollieren. Diese kampfkräftige Produktionsfront war wirklich wunderbar. Er wurde von seinen eigenen freudigen Gefühlen überwältigt."
艾芜 - 百炼成钢; (1958) S. 3, 4.
"Nächste Haltestelle: Wolfsburg-Fallersleben" ertönt es aus dem Lautsprecher des Zugs. Wir sitzen auf dem Weg in die Volkswagenstadt in dem mittlerweile leeren Regionalzug Endstation: Wolfsburg. Der kleine Vorstadtort, der vor dem Krieg der Stadt seinen Namen gab, ist heute einer der wenigen Altstadtoasen, die die Stadt doch noch zu bieten hat. Der Zug fährt weiter. Auf der linken Seite sieht man nun die beeindruckenden Kräne des Güterhafens Fallersleben empor ragen. Dahinter der Mittellandkanal. Er verbindet die Weser mit der Elbe mit der Spree und schlussendlich mit der Oder. Alles was man jenseits des Kanals sieht gehört zum Sonderbezirk, zum Volkswagenwerk. Kilometerweit stehen die zweiundzwanzig identisch aussehenden Eingangsbereiche der Produktionshallen aneinandergereiht an der Südstraße parallel zum Kanal. Die größte Fabrik der Welt beschäftigt 63300 Menschen, mehr als die Hälfte der Einwohner Wolfsburgs. Nach dem zweiundzwanzigsten Produktionsblock hat man endlich Aussicht auf das Wahrzeichen Wolfsburgs. Das Alte Heizkraftwerk mit seinen vier Türmen ist über die ganze Stadt hinaus zu sehen und das Herzstück Wolfsburgs. Zwar ist es nicht mehr in Betrieb, es würde jedoch keinem einfallen das Kraftwerk abzureißen oder zu ersetzen. Eines der bedeutsamsten Stücke Industriekultur Deutschlands.
Wenn wir im Dezember oder zu Weihnachten in die Stadt fuhren, waren die vier Schornsteine gemäß des zeitlichen Fortschritts der Adventszeit stets in rotem Glanze zu sehen. Am ersten Advent brennt eine Kerze, am Zweiten zwei, am Dritten drei, und an Weihnachten alle. Jedes Mal wenn wir alle zusammen im Winter zu unser Familie nach Vorsfelde im Osten der Stadt fuhren, zählte ich die Ausfahrten auf der A39. Kurz vor Wolfsburg-Mitte bat ich meinen Vater hier abzufahren und so den Rest der Strecke durch die Stadt zu fahren. Als hier Aufgewachsener vermied er immer diesen Weg. Er fuhr lieber die neu gebaute Umgehungsschnellstraße nördlich des Werks, um so wenig wie möglich von den grauen und monotonen Häuserwänden sehen zu müssen. Ich dagegen fühlte mich hier immer wie Zuhause. Die Stadt meiner Familie, eine Stadt der Zugezogenen, der Flüchtlinge. Auf mein Drängen hin, dass ich doch noch unbedingt durch die Stadt fahren wollen würde, fuhren wir dann schlussendlich doch ab. Die breiten, vielspurigen Straßen in die Stadt konnten ebenfalls vorerst flott befahren werden. Teilweise 100 km/h stand dort auf den Schildern. Papa fluchte dann stets über die Ampeln, bei denen man eben auch manchmal von 100 km/h auf 0 km/h abbremsen musste. "Ampelstadt Wolfsburg, deshalb fahre ich hier nicht gerne lang." grummelte mein Vater stets. Mich faszinierte der Anblick aus dem Fenster immer wieder. Wie ich später in Geschichtsbüchern der Stadtbibliothek las, waren die breiten und vielspurigen Straßen nicht nur für die Schichtwechsel im VW-Werk gebaut, sondern vor allem als Propaganda und Aufmarschplätze für die Nazis. Die Stadt entstand aus dem Nationalsozialismus heraus. Hitler baute hier den Kraft-durch-Freude-Wagen und ließ so die "Stadt-des-KdF-Wagens bei Fallersleben" gründen. Vorher war hier rein gar nichts. Die weiten Waldflächen, und Felder sowie der Drömling, ein riesiges Sumpfgebiet an der Grenze zu Sachsen-Anhalt, ließen noch auf die unberührte norddeutschen Naturlandschaft schließen, die hier einmal blühte. Nur das Schloss gab es bereits. Das Schloss Wolfsburg an der Aller, welcher übrigens auch als Norddeutschlands längster nicht ins Meer mündender Fluss bekannt ist, stand dort so einsam an den sumpfigen Ufern des Flusses im Drömling. Hier gab es damals viele Wölfe, las ich. Das Wappentier des alten Hauses war nun in der ganzen Stadt zu finden. Die Braunschweiger Straße in die Stadt hinein, zierten haufenweise VfL Wolfsburg Flaggen, silberne Wolfsskulpturen und künstliche Modelle des Golfs auf den weiten Grün- und Parkflächen abseits der Straße. Nun ging es rechts auf den Berliner Ring. Links sah ich den Schillerteich, rechts das Porschestadion und dahinter das beliebte VW-Bad. Ich erinnere mich an schöne Zeiten dort mit meinen beiden Cousins und meinen Großeltern im Sommer. Nun war es jedoch Winter. Die Stadt war grau, wie so ziemlich jede Stadt in Mitteleuropa in dieser Jahreszeit. Die Straße machte einen weiten Bogen in Richtung Norden. Endlich konnte ich in der Ferne die achtspurige Berliner Brücke, die einzige Autobrücke über den Kanal und somit die Hauptverkehrsader zwischen Nord- und Südstadt, sowie die vier so markanten Türme erblicken. Alle vier leuchteten sie rot im Nachthimmel des Nachmittags. Vor den industriellen Schornsteinen, türmte sich die Autostadt auf. Die Vorzeigeerlebniswelt Wolfsburgs, das Herzstück der Stadt. Die Eingangsgebäude waren wahrlich Kunstwerke der damaligen modernen Architektur. Gewaltige Bögen umspannten ein weißes Zelt in der Mitte. Vollständig aus Glas mit dem wahrscheinlich zu dieser Zeit größten bekannten LED-Bildschirm stand links das einem überdimensionalem Würfel nachempfundenen Hauptgebäude mit aufgesetztem Flachdach. Rechts daneben befanden sich die zwei ebenfalls aus Glas bestehenden Autotürme. Circa 150 Meter in den Himmel ragten diese Kolosse. Sollte man sich dazu entscheiden einen Volkswagen zu kaufen, konnte man sein nun fertig produziertes Auto höchstpersönlich aus der Autostadt abholen. Exakt hier musste man sich einfinden. Meine Familie arbeitete lange im Werk. Opa und Oma waren bereits pensioniert und durften sich daher als VW-Werksverteranen jedes Jahr hier ein neues Auto abholen. Als Kind war ich häufig dabei. Im oberen Teil des weißen Zelts befand sich das Lieblingsrestaurant meines Großvaters. Das Tachometer, servierte die tatsächlich meist verkaufte Ware des Konzern. Die Volkswagencurrywurst hatte seine eigene Teilenummer im VW-Teilekatalog. Statistiken offenbarten, dass es kein anderes Autoteil geschafft hatte sich gegenüber der Currywurst bezüglich der Verkaufszahlen durchzusetzen. Das hieße nun. Volkswagen sei eine gigantische Wurstbude, die nur nebenbei ein paar Autos verkaufe. Mein Blick schweifte nach rechts auf das Volkswagenstadium. Der Anblick auf das Stadium faszinierte mich wie jener auf die Autostadt jedes mal aufs Neue. Dieser Bereich nördlich des Kanals wurde wahrhaftig in Szene gesetzt. Im Sommer macht es immer sehr viel Spaß hier mit dem Fahrrad über die gut ausgebauten Radwege und weiten Parkanlagen zu radeln. Den vielen zugezogenen Arbeiter musste schließlich auch ein bisschen Lebensqualität geboten werden. Der VW-Konzern blickt schließlich weltbekannt auf eine äußerst erfolgreiche Konzernhistorie zurück. Naja, abgesehen von der Zwangsarbeit während der NS-Zeit, der Ausbeutung im Ausland, dem Massenbetrug und der Umweltverschmutzung. Davon würde man hier nichts wissen wollen. Fragen Sie die Menschen auf den Straßen Wolfsburgs welche Meinungen sie zu diesen Themen haben. Sie würden stets auf loyale und konzernpatriotische Arbeiter treffen, die versuchen würden die Kontroversen mit gleichartigen Problemen anderer Konzerne zu relativieren. Die Stadt und deren Arbeiter ist von derartigen Krisen sowieso nicht betroffen. Sollte ein Werk schließen müssen oder Arbeitsplätze abgebaut werden müssen, dann beträfe das stets zuerst Emden, Zwickau oder Hannover, jedoch niemals die Volkswagenstadt. Einige Arbeiter würden eventuell mit äußerst hohen Renten in die Frühpension geschickt, wie es meinem Großvater widerfahren war. Volkswagen tat alles dafür, dass die doch so wertvollen Arbeitskräfte die Stadt nicht verließen. Viel Geld steckte daher in Wolfsburg. Jede Straße war perfekt asphaltiert, die Bahnhöfe modern und die Sportvereine alle in hohen Ligen aktiv. Kunstmuseen, Kletterparks, Badeseen und Erlebniswelten wurden überall in der Stadt aus dem Boden gestampft. Zudem verdienten alle in dieser Stadt gut mit am Erfolg des Konzerns. Wolfsburg war und ist die reichste Stadt Deutschlands gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Mit knapp fünf tausend Euro Brutto erhielten die Menschen hier im Durchschnitt den höchsten Lohn in ganz Deutschland. Ich erzähle Ihnen das alles, weil für mich diese Stadt doch einen nicht wiederzuerkennenden Charme besaß. In den Augen vieler Menschen war sie lediglich ein großer Haufen Industrieschrott, ohne eine wirkliche Stadtgeschichte, ohne Altstadtkern. Einige erlaubten sich sogar den Scherz und erfanden die Bezeichnung "Deutschlands größter Parkplatz". Wenn man vor hatte die durchaus schöne Studienstadt Braunschweig über ein Wochenende zu besuchen, war Wolfsburg der Ort, an dem man sein Auto parken konnte. Natürlich war ich anderer Meinung. Die Industrie hatte seinen Charme. Industriekultur. Mittlerweile waren die vier Türme des alten Kraftwerks anerkannte und geschützte Industriedenkmäler. Auf der anderen Seite hatten die Nörgler mit Sicherheit Recht. Vor der NS-Zeit pflügten hier die Bauern den teilweise sehr nährstoffarmen Boden. Die Zugezogenen in der jungen Stadt, musste sich ihre eigene Regionalkultur zusammenmischen. Meine Großeltern selbst kamen aus Niederschlesien nach Wolfsburg. Viele kamen aber auch weit her aus dem Ausland, aus Italien, Tunesien, ja sogar Mexikaner und Chinesen trifft man heutzutage in der Stadt an. Mitarbeiter aus anderen Volkswagenwerken auf der ganzen Welt, die der Konzern nach Wolfsburg verfrachtet hatte. Um ehrlich zu sein, hielten es wenige aus den großen Städten Mexikos, Chinas oder auch Süddeutschlands hier aus. Das Leben hier hatte eher Kleinstadtcharakter. Die Bürgersteine waren stets pünktlich alle um acht Uhr abends hochgeklappt. Lediglich Samstags saß das junge studentische Klientel, das bereits vor langer Zeit Wolfsburg verlassen hatte, jetzt in Braunschweig, Hamburg oder Magdeburg studierte und nur an gelegentlichen Wochenenden die Heimreise antrat, in den Cafés der Porschestraße. Zu allen anderen Uhrzeiten und wenn nicht gerade Schichtwechsel im Werk anstand, war die Stadt wie leergefegt. Aber wenn dann gerade doch mal Schichtwechsel war, verstand man im Handumdrehen weshalb die Straßen hier derartig breit sein mussten und mit teilweise fünf Fahrstreifen auf jeder Fahrbahn ausgestattet waren. Um fünf Uhr morgens jeden Morgen war hier die Hölle los. Halb Wolfsburg war auf dem Weg ins Werk und hatte es zum allen Überfluss auch noch sehr eilig. Wir waren immer noch in Norddeutschland, dessen Einwohner nicht gerade für ihre offene Freundlichkeit, beziehungsweise ihre Geduld im Straßenverkehr bekannt waren. An diesen Morgen stauten sich die Jahreswagen auf der Berliner Brücke, der Braunschweiger Straße und der Autobahn A39 stets kilometerlang. Diese Einzigartigkeit der Stadt war es, die es mir angetan hatte. Die Industriekultur, jener Arbeitergemeinschaft, die in ganz Deutschland einzigartige Stadtgeschichte machte Wolfsburg aus. Ja, in Teilen Bayerns kann man wahrscheinlich in jede Kleinstadt einen kurzen Halt einlegen und findet ein wunderschönes kleines Örtchen mit altem Fachwerk und toller Altstadtidylle nach dem anderen. Fast alle könnte ich sie aufzählen. Rothenburg, Donauwörth, Weißenburg usw... Ihre Stadtgeschichten gleichen mit Sicherheit allen Märchen. Die Stadt Wolfsburg gab es kein zweites Mal in Deutschland, Gerade deshalb war ich an diesem Freitag im Juni voller Stolz, dass ich meinen Freunden aus Westfalen meine einzigartige Heimat zeigen konnte. Ich hatte sie bereits vorgewarnt, es konnte also keine Ausreden geben...
Nachdem ich noch einen letzten Blick auf die Schlosszinnen der Wolfsburg geradeaus erhalten konnte, fuhren wir schon rechts am Allersee vorbei aus der Stadt raus und in Richtung Vorsfelde, dort wo meine Großeltern heute leben...
Auf den mannsgroßen grünen Bänken des Klieversberg sitzend blickte ich angetüdelt und voller Stolz auf meine beiden westfälischen Freunde, die dort ganz heiter diskutierten, wie man doch diesen mitgebrachten mittelalterlichen Canon-Fotoapparat am besten bedienen sollte. Ich dachte an den wunderschönen Tag mit ihnen zurück. Die Autostadt, den Kanal, den Allersee und sogar Vorsfelde konnte ich heute den beiden zeigen. Für mich war das etwas ganz besonderes. Diese Heimat war teil meines Herzens. Etwas so Intimes, dass mich selbst so begeisterte. Hier hatte ich bereits so viel Zeit verbracht, so tolle Momente erlebt. Hier kannte ich die Straßen, die Orte, die Menschen. Für mich war das das reinste Glück. Ich glaube es ist ähnlich, wie wenn man seine feste Freundin das erste Mal zu Hause vorstellt. Aber eben noch intimer. Ich kenne meine beiden Freunde schon dutzende Jahre, so viel haben wir schon zusammen erlebt. Diese Erinnerung werde ich noch lange mit mir herumtragen. Es ist eine perfekte Erinnerung. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Planetarium des Klieversbergs während ich die beiden in ihrer Diskussion unterbrach, mir den Fotoapparat schnappte, mich zwanzig Meter vor die Bank kniete und mit der untergehenden Sonne im Hintergrund ein Bild von uns Dreien machte. Ich glaub' auf meinem eingefangen Lächeln kann man das Glück sehen, welches mich erfüllte. Auf der überdimensionalen Bank sitzend, mit den Beinen dort baumelnd grinsten die beiden von dort hinten in die Kamera. "Fertig!" rief ich, "Sooo, wer hat Lust auf noch ein Bierchen auf der Po?" griente ich den beiden entgegen. "Ohja wir sind hier sowieso schon viel zu lange hochgelaufen, ich habe Durst." meckerte der eine ironisch. "Äh, wir trinken doch noch Tequila, oder Jungs?" äußerte sich der andere stöhnend von der Bank abspringend. "Natürlich ihr Anfänger" zwinkerte ich den Beiden zu. Ich hing dem einen seine Kamera um den Hals und gemeinsam gingen wir mit den Armen auf unseren Schultern den Klieversberg im Sonnenuntergang hinunter. Ich als Bambusstange bekam kaum meinen Arm um die Giraffe, das pupsende Nilpferd ist ganz gut zu packen, jedoch musste ich es hinter mir herschleifen...